Wie ist das Schreiben der Kammer vom 27.7.2021 zu bewerten?

Was wissen wir nun?

Ziel: NQR Stufe 6 (Bachelorniveau)
Ausbildung entspricht 180 ECTS, also 4.500 Arbeitsstunden Workload.
Einführung einer staatlichen Prüfung

Was bedeutet das?

Unter Einbeziehung der Praxis umfasst die derzeitige Ausbildungsdauer mindestens 1.364 Stunden, Es handelt sich also knapp um eine Vervierfachung der Ausbildungszeit. Laut Schreiben „ .. sollen auch alle Vor- und Nachbearbeitungen in der Ausbildung, Lesen der Literatur, Selbststudium, etc. in die Ausbildung eingerechnet werden“. Selbstredend kann das ein gewisser Anteil der verbleibenden 3.100 Stunden sein, aber wohl nur ein bescheidener. Es bleiben jedenfalls mindestens 2.000 Stunden, die in den kolportierten Zeitraum von sechs Semestern zu leisten wären. Zum Vergleich umfasst die Psychotherapieausbildung laut PT-Gesetz (inkl. Propädeutikum) 3221 Stunden, davon 1065 Stunden Theorie und 2156 Stunden Praxis. Nicht einmal die Psychotherapieausbildung umfasst derzeit den nötigen Umfang um einen Workload von 180ECTS nachzuweisen.
Es geht also NICHT nur um ein Zusatzsemester mit ein paar mehr Stunden!! Der Arbeitsaufwand und das Praktikum müssen mindestens verdoppelt werden!
Das führt zu einer ebensolchen Steigerung der Kosten bzw im Rahmen des Praktikums (das häufig unentgeltlich zu leisten ist) zu einem Einkommensverlust unserer TeilnehmerInnen. Dazu kommen noch die Kosten für die „staatliche Prüfung“. Geht man von derzeitigen Kosten von rund EUR 10.000,00 aus, was für viele KundInnen schon jetzt eine hohe finanzielle Hürde bedeutet, würde eine Verdopplung auf € 20.000,00 (neben dem viel höheren zeitlichen Aufwand) nicht nur unerschwinglich sein, sondern wäre auch in derselben Preisklasse fallen wie derzeit Psychotherapieausbildungen.

Was wäre die Folge?


Nur noch finanziell besser Gestellte könnten eine solche Ausbildung absolvieren
TeilnehmerInnen würden sich im Vergleich für eine Psychotherapieausbildung entscheiden!
- Das Berufsfeld der PT ist breiter, ermöglicht also mehr Arbeitsbereiche, vor allem im Gesundheitssystem (inkl Vergütung durch die Krankenkasse)
- Eine selbständige Tätigkeit ist auch möglich
- Das Image der PT ist leider deutlich besser.
Kaum jemand würde noch eine LSB-Ausbildung absolvieren. Wahrscheinlich würden einige bestehende LSB ein „Upgrade“ anstreben, aber ansonsten wäre das das Ende des Berufsstandes.

 

Was bekommen wir also für diese höchst gefährliche Änderung an Vorteilen?

Argumente für eine Änderung laut Schreiben des Fachverbandes vom 27.7.2021
1. dass alle Lebens- und SozialberaterInnen (LSB) bei den Familienberatungsstellen anerkannt werden,
2. dass alle LSB eine bessere Einstufung im Angestelltenverhältnis bekommen,
3. dass unsere LSB auch das Gütesiegel „staatlich geprüft“ erhalten,
4. dass unsere LSB – ähnlich wie die Meistergewerbe mit dem Titel „Meister“ – einen Titel führen dürfen,
5. dass unser Gewerbe nicht freigegeben wird,
6. dass unsere Ausbildung für das Propädeutikum angerechnet wird und
7. dass unser Berufsbild als Psychosoziale BeraterInnen neben den PsychotherapeutInnen, den klinischen und GesundheitspsychologInnen, den SozialarbeiterInnen geschärft wird.

Bewertung der Argumente:


Ad 1. Selbstverständlich ist dieser Punkt, so wie er hier formuliert ist, illusorisch. Er gilt keineswegs für „alte“ LSB. Das wäre bestenfalls mit einem Upgrade auf die neue Qualifikation inkl. staatlicher Prüfung möglich. Einen Automatismus kann es hier nicht geben, sonst wäre es ja schon jetzt möglich, diese Tätigkeit für LSB zu öffnen. Es gibt für alle interessierte schon jetzt die Möglichkeit, diese Anerkennung durch Zusatzqualifikation zu erreichen. Eine allgemeine Anerkennung wäre zwar sicherlich wünschenswert, ist aber auf Grund des eingeschränkten Berufsfeldes und der geringen Bezahlung sicher nicht für alle KollegInnen relevant. Eine einheitlich geregelte Zusatzqualifikation im Sinne der Expertenlisten ist aber sicherlich möglich und sinnvoll. Dazu ist eine neue Ausbildungsverordnung nicht nötig.


Ad 2. Der Großteil der angestellten LSB arbeiten im Sozial- und Gesundheitssystem, bzw. im AMS-nahen Bereich. Dort sind die Einstufungen geregelt und das Budget limitiert. LSB werden aufgrund des guten Kosten-Nutzen-Verhältnisses eingestellt, meist äquivalent zu SozialpädagogInnen. Eine (wünschenswerte) bessere Einstufung (z.B. auf dem Niveau von Psychotherapeuten) würde lediglich dazu führen, dass neue Stellen nicht mehr mit LSB besetzt würden. Ähnliche Entwicklungen waren in einigen anderen Branchen zu beobachten, wo eindeutig höhere (auch akademische) Qualifikationen NICHT zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Bezüge geführt haben. Die Höhe der Bezüge bestimmt üblicherweise der Kontext und nur im sehr geringen Ausmaß die formale Qualifikation. ZU einer Verschlechterung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses trägt zusätzlich die deutliche Erhöhung der Ausbildungskosten bei. Anmerkung: Allerdings ist es höchst erfreulich, dass die Kammer erstmals auch unsere angestellten KollegInnen berücksichtigt. Bis zum heutigen Tag wurde ja erklärt, für diese nicht zuständig zu sein, so sie keinen aufrechten Gewerbeschein haben.


Ad 3. Eine solche Bezeichnung hängt nicht an einer Verortung in Stufe 6 des NQR, sondern an der Etablierung einer „staatlichen Prüfung“. Diese ist kostenintensiv (in der Schweiz schlägt sie mit ca. €3.000,00 zu Buche) und stellt eine zusätzliche Eintrittshürde dar. Das ermöglicht tatsächlich einer - vermutlich von der Kammer besetzten - „Prüfungskommission“ den Zugang zum Gewerbe zu kontrollieren. Wie in unserer Branche, in der die relevanten Fähigkeiten kein reines Fachwissen, sondern Haltung, Empathie usw. sind, in irgendeiner Weise ein relevantes Prüfungsergebnis gewährleisten ist fraglich und wissenschaftlich unhaltbar.


Ad 4. Neben der Frage, wer als LSB auf einen Titel wie „Meister“ oder „Professional“ Wert legt, gewährleistet eine Einstufung im NQR 6 das keinesfalls.


Ad 5. Das aufgebaute Drohszenario ist, dass es in Folge weiterer Liberalisierungen des Gewerberechts zu einer Freigabe des Gewerbes gibt und LSB tatsächlich ein „freies Gewerbe“ wird. Aufgrund der spezifischen Tätigkeiten im psychosozialen Bereich halte ich eine fundierte Ausbildung, wie es sie jetzt gibt, für unumgänglich. Weiters halte ich es aufgrund der gesundheitsrelevanten Aspekte, die seit jeher auf nationaler Ebene geregelt werden (üblicherweise werden Deregulierungsbestrebungen auf EU-Ebene verantwortlich gemacht) für einfach, mit einer entsprechenden Interessensvertretung sicherzustellen, dass das passiert. Anmerkung: In diesem Zusammenhang hat Herr Herz auf facebook gefragt, welche Konsequenzen eine Einstufung auf Ebene 3 oder 4 hätte. Die Antwort ist einfach: Ich weiß es nicht. Persönlich denke ich, dass selbst eine (unrealistische) Einordnung auf Niveau 3 tatsächlich keinerlei Relevanz hätte. Der NQR ist im Wesentlichen, wie ich an anderer Stelle festhalte, eine sehr akademische Idee von Bildungswissenschaftlern mit wenig Bezug zur beruflichen Realität. Ein Vergleich zwischen einem Handwerksmeister und einem akademischen Bachelor macht ganz einfach nicht besonders viel Sinn. Viele Prämissen, wie die Kompetenzorientierung des NQR, sind zwar theoretisch gute Ideen, nachdem aber „Kompetenz“ sehr schwer operationalisiert (gemessen) werden kann, muss man wieder Hilfsvariablen heranziehen und hier insbesondere die Ausbildungsdauer. Schlussendlich ist damit wenig gewonnen. Realistisch halte ich eine Einstufung der LSB auch mit der bestehenden Ausbildungsverordnung auf Stufe 5 für realistisch. Als Referenz kann der bereits erfolgte Eintrag des Berufs „Diplomierter Erwachsenenbildner nach WBA“ dienen.


Ad 6. Bereits jetzt rechnen zahlreiche Anbieter von Propädeutika Inhalte der LSB-Ausbildungen an. Es ist höchst wünschenswert, hier transparente Anrechnungskriterien zu schaffen. Ich halte eine solche transparente Anrechnung für sehr viele ähnliche Berufe im Sozial- und Gesundheitsbereich für höchst sinnvoll. Dabei ist es nicht an einer Einstufung im NQR gescheitert, sondern an den persönlichen Befindlichkeiten und berufspolitischen Interessen der handelnden Personen (in diesem Bereich im Gesundheitsministerium). Es ist aber anzumerken, dass ein Propädeutikum eben keine fundierte Beratungsausbildung bietet und dementsprechend die Zielrichtung der Ausbildung eine deutlich andere ist. Die dort vermittelten Rechtsgrundlagen sind unterschiedlich und es handelt sich oft um ein „Schaulaufen“ der Ausbildungsvereine mit Werbung für das (teure) Fachspezifikum. Tatsächlich gibt es ein hohes Interesse an der Verlängerung der Ausbildung aus dem Gesundheitsministerium. Das Ministerium steht seit jeher den LSB sehr kritisch gegenüber, da sie außerhalb der eigenen Einflusssphäre in einem verwandten Bereich agieren. Tatsächlich wären nach meiner Meinung Anbieter von Psychotherapieausbildungen und damit auch das Gesundheitsministerium der große Gewinner dieser Ausbildungsreform.

Ad 7. Wie mehrfach argumentiert führt diese Änderung schlussendlich zum Ende der LSB und nicht zu einer „Schärfung“ des Berufsbildes. Dieses gilt es in der täglichen Praxis zu schaffen.und durch entsprechende Branchenkommunikation zu gewährleisten. Die Berufe haben alle ihre Berechtigung und unterschiedliche Schwerpunkte. Hier sollte einerseits transparente Anrechnungen und der Erwerb von Zusatzqualifikationen gewährleistet werden und andererseits sollte endlich an einem kooperativen und multiprofessionellem Zugang gearbeitet werden. Die LSB hat hier bereits jetzt ihren „scharfen“ und wichtigen Platz.

Fazit: Keines der Argumente ist eine direkte Folge der Einstufung auf Niveau 6 des NQR. Weder die Tätigkeit in Ehe- und Familienberatungsstellen hängt daran (es gibt jetzt schon zahlreiche LSBs, die diese Qualifikation erworben haben), noch ist eine höhere Bezahlung im Angestelltenverhältnis wahrscheinlich (was zusätzlich um die zusätzlichen Ausbildungskosten relativiert werden muss). Ob eine staatliche Prüfung und ein Titel überhaupt sinnvoll oder notwendig sind, mag jedem Einzelnen überlassen bleiben. Jedenfalls verursacht die Prüfung höhere Kosten und da es keine klare „Messung“ guter Beratungsleistungen gibt, wäre sie ungerecht. Insgesamt scheinen mir die Argumente für dies Änderung zum einen unrealistisch und zum anderen ziemlich schwammig („Schärfung des Berufsbildes“). Dem stehen aber dramatische Nachteile gegenüber, insbesondere der deutlich höhere Aufwand an Zeit und Geld für die Ausbildung (zwischen einer Verdopplung und einer Verdreifachung) und damit verbunden ein essentieller Wettbewerbsnachteil mit alternativen Berufsbildern insbesondere der Psychotherapie.


Das Kosten-Nutzen-Verhältnis dieser Änderung steht in keinem sinnvollen Verhältnis. Sie führt nicht nur zu einem sehr schnellen Ende aller Ausbildungsinstitute, und damit Einbußen für viele dort beschäftigte LSB, sondern sie ist eine elementare Gefährdung des ganzen Berufs.
Nichts in dem Schreiben der Kammer konnte das widerlegen.